BAGK+R – Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus

Termine  -  18. Dezember 2019

Reizwort Gender – ein Einfallstor für rechts außen

Am 9.12.2019 veranstaltete ein ökumenisches Netzwerk in Bayern einen Fachtag zum Thema: „Reizwort Gender“ im Caritas-Pirckheimer-Haus in Nürnberg. Veranstalter*innen waren die Evangelische Jugend in Bayern, der Katholische Deutsche Frauenbund, die Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche & Rechtsextremismus, die Projektstelle gegen Rechtsextremismus „bunt – nicht braun“, die Akademie des Caritas-Pirckheimer-Hauses, das forum frauen und forum männer des Amtes für Gemeindedienst und das Referat Chancengerechtigkeit der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

Hintergrund

„Gender“ ist für die extreme Rechte mittlerweile ein explosiver Schlüsselbegriff. Mit der Warnung vor einer „Gender-Gefahr“ und der gleichzeitigen Verhöhnung von „Gender-Unfug“ streben sie dabei die Deutungshoheit in der gesellschaftlichen Debatte an. Mit Begriffen wie „Genderismus“ oder „Gender-Gaga“ diffamieren sie Positionen der Geschlechter-gerechtigkeit. Das ist umso wirksamer, da in Teilen der Öffentlichkeit ein Roll back in diesen Fragen zu beobachten ist: Viele Menschen lassen sich für traditionelle Geschlechterstereotype und Familienmodelle gewinnen, die sie jedoch nicht nur für sich selbst leben, sondern sie als einzig „natürliche“ Ordnung bezeichnen und andere Lebensweisen abwerten.
Dabei verkennen viele, dass das Anti-Gender-Thema ein sehr bedeutsamer Stein aus dem Bausatz derjenigen ist, die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit propagieren.
Im Klartext bedeutet dies, dass solche Gruppen abwertende und ausgrenzende Einstellungen gegenüber vielen sozialen Gruppen verbreiten.
Dass aber Menschen mit dieser menschenverachtenden Haltung ausgerechnet bei ultrareligiösen Gruppierungen Stimmung machen können, ist ein bemerkenswertes Phänomen.

Mit verschiedenen Vorträgen und Workshops nahmen am ökumenischen Fachtag „Reizwort Gender – ein Einfallstor für rechts außen“ rund 45 Interessierte aus der kirchlichen Arbeit das Thema kritisch unter die Lupe. Von Referierenden aus Theologie und Pädagogik erfuhren die Teilnehmer*innen, wie die extreme Rechte mit ihren Positionen zu diesem Thema gerade in der katholischen und evangelischen Kirche Anschluss sucht und sich einen wachsenden Resonanzraum verschafft.

Aus den Workshops

In ihrem Workshop »Zurück zur natürlichen Ordnung« hinterleuchtete die evangelische Theologin Ruth Hess ein hochaktuelles Projekt: Ein Netzwerk mit dem unscheinbaren Namen ›Agenda Europe‹ möchte die sogenannte kulturelle Revolution der letzten Jahrzehnte rückgängig machen. Das Programm reicht vom Verbot künstlicher Empfängnisverhütung bis zur Rekriminalisierung von Homosexualität.
In diesem Geflecht stehen ultrareligiöse Gruppierungen beider christlichen Kirchen eng beieinander und wollen ihre reaktionären Ansichten in der Mitte der Gesellschaft verankern.

Für alle liberalen Kräfte aus Kirche und Politik, die eine Erosion demokratischer Werte befürchten, ist es bedeutsam, sich über dieses Netzwerk zu informieren: Hier vereinen sich religiöse und politische Akteur*innen, ummanteln ihre intoleranten Ziele mit angeblich ehrbaren Anliegen, schüren diffuse Ängste und werden mit ihrer Strategie schlagkräftig – sie unterstellen etwa der Gegenseite schlicht das, was sie selbst tun:

„Beispielsweise wollen Anti-Gender-Kräfte starre Rollenbilder vorschreiben, werfen aber denen, die für Freiheit und Vielfalt eintreten, Zwang und ›Umerziehung‹ vor.“
(aus dem Flyer »Gender.ismus« des Evangelischen Zentrum Frauen und Männer gGmbH, Ruth Hess)

Der Beitrag »Zieht Euch warm an« der katholischen Theologinnen Dr. Annette Jantzen und Rebekka Biesenbach dagegen beschäftigte sich sehr praxisorientiert mit Kommunikations-schwierigkeiten beim Thema Geschlechtergerechtigkeit. So lohnt es sich, erst einmal die Begrifflichkeiten sauber zu definieren.
In diesem Zusammenhang wurden übliche Missverständnisse im Workshop diskutiert, danach mögliche Argumentationen erarbeitet, wie in diesem aktuell so umkämpften Terrain auch und besonders innerkirchlich Feindbilder abgebaut und eine Gesprächsbasis geschaffen werden kann.
Auch im Seminar des evangelischen Theologen und Pädagogen Martin Rosowski »Geschlechterbilder im Wandel« ging es um Handlungsfähigkeit bis hin zu Zivilcourage.
Sein Credo: Wir können über die vermeintliche Ignoranz klagen, wir können aber auch über die Tatsache nachdenken, dass sich der Mainstream der Gesellschaft als Frauen oder Männer definiert und warum er sich mit dem Diskurs über Geschlechtervielfalt so schwertut.
In der Praxis ging es in diesem Workshop dann um die Frage, wie man den Anti-Genderstereotypen beispielsweise an Stammtischen, beim Sport oder auch in der Kirche begegnet. Wie gelingt es, mit dem Thema Geschlechtergerechtigkeit an den Lebenserfahrungen vieler Menschen anzuknüpfen? Wie bringt man eine Freude an der Vielfalt der Geschlechter in den Mainstream?
Ob Gender überhaupt ein biblisches Thema ist und an welchen Stellen Rückschlüsse dazu zu ziehen sind, damit beschäftigte sich die evangelische Theologin und Hochschulprofessorin Dr. Melanie Köhlmoos in ihrem Workshop »Die Bibel – kritisch und geschlechtergerecht interpretiert«.

Feedback

Die ökumenische Netzwerkgruppe, die zu diesem Fachtag eingeladen hatte, trug in Fragebögen die Resonanz der Veranstaltung zusammen. Eine vollständige Auswertung wird noch Zeit in Anspruch nehmen, aber eines ist bei Durchsicht der Bögen klar:
Nahezu alle Teilnehmenden sprachen sich für eine Vertiefung des Themas durch einen weiteren Fachtag aus. Die meisten nahmen sehr viel Neues für ihre Arbeit mit und halten „Anti-Gender“ mit den Verwurzelungen in ultrareligiöse wie auch rechte Gruppierungen für ein Thema mit eminenter Sprengkraft für Kirche und Gesellschaft.
Unsere Gruppe wird also sicher in diesem Feld weiterarbeiten.

Text: Anke Bahr / Ökumenischer Arbeitskreis »Reizwort Gender«, Bayern